14/06/2019

Das poröse Nicht-Klassenzimmer im Haus der Kulturen der Welt

Tyna Fritschy

Tyna Fritschy ist Theoretiker*in und Kulturproduzent*in und lebt und arbeitet in Zürich und Wien. Sie* hat ihr Masterdiplom im Studiengang Philosophy, Art and Critical Thought an der European Graduate School in Saas-Fee erworben und forscht an der Schnittstelle von Philosophie, queer-feministischer Theorie und postkolonialer Theorie. Sie* beschäftigt sich in Texten, in der Lehre, in Workshops und anderen nicht-repräsentativen Formaten mit Fragen von Care, Beziehungsweisen, Besitzverhältnissen, Handlungs(un)fähigkeit, Produktionsverhältnissen und Bildungsarbeit. Sie* lehrt unter anderem an der Zürcher Hochschule der Künste im Master of Fine Arts und an der Akademie der bildenden Künste am Institut für bildende Kunst in Wien.

Tyna Fritschy ist Teil der New Alphabet School und war vom 9. bis 13. Januar 2019 Teilnehmer*in des (Un-)Learning Place am HKW während der Opening Days Das Neue Alphabet. Ihr Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin brand-new-life.org. Wir danken der Redaktion sehr herzlich für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. 

(Un-)Learning Place Workshop Januar 2019 HKW. Foto: Aya Schamoni

Otter Voice Notes, die App, die für mich die im Rahmen von (Un-)Learning Place geführten Gespräche aufzeichnet und automatisiert transkribiert, ist schon tief verstrickt in das inhaltliche Koordinatensystem der Veranstaltung: Stimme, Körper, Sprache, Übersetzung, Digitalität, Algorithmus. (Un-)Learning Place ist die fünftägige Auftaktveranstaltung eines mehrjährigen Projekts namens Das Neue Alphabet am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Parallel zu den öffentlichkeitswirksamen Opening Days bot das HKW vom 9. bis 13. Januar einen exklusiven – die breite Öffentlichkeit war nicht zugelassen – Raum für Zusammentreffen, Austausch und Workshops. Es entstand ein transnationaler Umschlagplatz für Wissen oder ein poröses (Nicht-)Klassenzimmer, das in unserer krisenhaften Gegenwart dazu einlud, Fragen um zukünftige Wissenssysteme zu verhandeln. 1

Die rund 80 Teilnehmerinnen, zumeist Theoretikerinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen, wurden während der fünf Tage in thematische Tracks aufgeteilt: Digitalität, Übersetzung, Körper, Archiv und Theorie. Angeleitet wurden diese Tracks von Kollektiven wie Fehras Publishing Practices, Each One Teach One (EOTO) e.V., knowbotiq und anderen. Ich sprach mit der Künstlerin Nicoline van Harskamp, der Theoretikerin und Aktivistin Gigi Argyropoulou und der Kuratorin Gilly Karjevsky – sie alle wurden zum (Un-)Learning Place eingeladen, um quer zu und jenseits von den fünf Tracks künstlerisch und theoretisch zu intervenieren.

Bevölkerte Räume und kollektive Begehrenspfade

Boris Buden und Olga von Schubert, die Kurator*innen von der im Rahmen von Das Neue Alphabet stattfindenden New Alphabet School, erklären, dass ihre Schule Ansätze versammelt für künstlerische, kuratorische, aktivistische, archivarische, poetische und kritische Wissenspraktiken, die institutionell nicht verbürgt sind und sich vornehmlich in außerinstitutionellen Sphären ansiedeln. Doch was passiert, wenn eine der großen Kulturinstitution Deutschlands nach jenem «genuin undisziplinären» Wissenspool greift, ja, wenn diese Wissen plötzlich kuratiert werden? Was ist möglich in einem Raum, der von diesen Widersprüchen strukturiert ist?

Knowbotiq, Amazonian Flesh – how to hang in trees during strike?, 2019, gezeigt bei Das Neue Alphabet – Opening Days im HKW Januar 219, Foto: Aya Schamoni.

Gigi Argyropoulou, die in (Un-)Learning Place Fragen nach der institutionellen Grammatik und deren Veränderbarkeit hineingetragen hat, meint ohne Umschweife: «Sehr viel ist möglich!» Die Frage, auf die es ankommt, sei viel eher, wie es möglich ist, in den gegebenen, fremdbestimmten Strukturen die Freiheit zu finden, die Dinge anders zu tun. Als eingeladene Beobachterin begleitete sie hauptsächlich die Auseinandersetzungen im Theorie-Track (Un-)Learning Institutions, der ebenfalls als Metareflexion des (Un-)Learning Place konzipiert wurde. Die Eindrücke ihrer dokumentarisch-reflexiven Arbeit versammelte Argyropoulou auf dem Projektblog Peopled Spaces. Peopled spaces meint bevölkerte Räume oder Räume des Austausches. Trotz der Tatsache, dass der (Un-)Learning Place für die breite Öffentlichkeit nicht zugänglich war, verwandelte sich in der Wahrnehmung Argyropoulous das HKW in einen öffentlichen Schauplatz. Diese Einschätzung mag erstaunen, zumal Argyropoulou während etlicher Jahren im Post-2008-Athen in selbstorganisierten Strukturen involviert war, namentlich in den künstlerisch-interventionistischen Besetzungen des Embros Theater und des Green Park, und so bestens vertraut ist mit Experimenten mit unterschiedlichen Öffentlichkeiten. Argyropoulous lässt aber auch unbeantwortet, ob es dem HKW mit einem Gewusel an umtriebigen Akademiker*innen und einer Ballung an Kritikalität auch tatsächlich gelingt, die Dinge anders zu tun.

Weitaus kritischer sieht Argyropoulou die Verwendung des Begriffs ‹Verlernen› (Unlearning), der im Kunstkontext zu einem inhaltsleeren Modewort verkommen sei. In der Tat erinnert niemand daran, dass Gayatri Spivak in der postkolonialen Theorietradition mit dem Begriff Verlernen einen Raum eröffnete, der es erlaube, Privilegien als einen Verlust zu erleben. 2 Wenn auch anders als Spivak, so sieht Argyropoulou doch eine Diskrepanz zwischen Zentrum und Peripherie: «Verlernen kommt mit der Notwendigkeit». Und, nein, im (Un-)Learning Place sei von Notwendigkeit nichts zu spüren. Die kreative Dynamik von Verlernen und Lernen entfaltet sich dort, wo neue Wörter geformt und neue Alphabete des Zusammenlebens entworfen werden – in Prozessen des sozialen und politischen Experimentierens.

Die vielen Englische

Dass in einem Raum wie dem (Un-)Learning Place, in dem zahlreiche Sprachen zusammenkommen, Englisch gesprochen wird, ist Dynamiken der Hegemoniebildung im europäischen Kunstfeld und der Macht der Gewohnheit geschuldet. Die Künstlerin Nicoline van Harskamp widmet sich seit einigen Jahren den sprachlichen Besonderheiten, Schieflagen und Brüchigkeiten, die sich in und mit der Herausbildung des International Art English ergeben. 3 Die unhinterfragte Hoheit des Englischen bringt die Konstruktion von nationalen Akzenten und dem gebrochenen Englisch mit sich und drängt die fremdsprachige oder migrantische Sprecher*in, die ganz unverstanden bleibt, an den Rand. Nicoline van Harskamp nimmt die sprachlichen Codierungen in und jenseits vom Kunstfeld zum Ausgangspunkt ihrer Intervention The New International Phonetic Alphabet School. In Form von fünf kurzen instruktiven Videos, MOOCs – Akronym von Massive Open Online Course, einem Videoformat, das sowohl freie als auch kostenpflichtige Lehrinhalte anbietet – präsentierten Sprecher*innen einzelne Aspekte der Phonetik. In einem Video wird der stimmlose Mittellaut Schwa als Basis für sämtliche Lautbildungen vorgestellt. Ein anderes Video handelt vom phonetischen Hörtraining und durchkreuzt die Vorstellung, dass es so etwas wie ein neutrales Hören gibt.

Ear Training, 2019, mit Zoénie Liwen Deng, geschrieben und produziert von Nicoline van Harskamp für (Un-)Learing Place im Haus der Kulturen der Welt Berlin.

Van Harskamps Hoffnung: dass die Phonetik jenen Code darstellen möge, der die sprachliche Äußerung aus jenem hierarchischen System herauslöst, das sie auf eine einzige legitime und gültige Aussprache fixiert. Während die Alphabetisierung der Phonetik durch das Ende des 19. Jahrhunderts erfundene International Phonetic Alphabets, kurz IPA, die Standardisierung der Aussprache hervorgebracht hat, so sucht van Harskamp dieser Bewegung entgegenzuwirken: An die Stelle des Englischen treten Englische, die Pluralisierung und die subversive Entbindung von der Fixierung auf die Standard(aus)sprache. Damit sucht van Harskamp nach politisch-taktischen Verschiebungen, Variationen, lokalen Koloriten, temporären (affektiven) Imitationen und, genereller, nach der Plastizität des Sprechens. Eine Grenze ist diesem Projekt einzig gesetzt durch die materielle Grundlage der Phonetik: alle dem Menschen verfügbaren anatomischen Möglichkeiten, Laute zu generieren, können ausgeschöpft werden.

Don’t fill the gap!

Die dritte (Un-)Learning Place-Beobachterin, die Kuratorin Gilly Karjevsky, bringt nochmals eine komplett andere Perspektive ein. Die im HKW zusammenlaufenden Diskussionsstränge, Erfahrungsräume und Wissensformationen lässt sie von einer einzigen Suchbewegung abtasten, dem Gaping, das sie zu einer Instruktion verdichtet: «Identify gaps in your understanding, gaps in the language, lost terms, new terms, spectrums between binaries, gaps between theory and practice, between anticipation and manifestation, between you and others, you and the world. Write it down. Explain it to the note. Fold the note tightly and hide it in a crack in the building.» Das neue Alphabet soll durch Lücken, Abstände und Differenzen ins Leben kommen. Lücken, Abstände, Differenzen: Sie seien die Buchstaben des neuen Alphabets, so Karjevsky. Sie seien notwendiger Bestandteil jeder menschlichen Dynamik, und durch sie erschlössen sich neue Räume, Spektren und Kontinuen. Deswegen machte sich Karjevsky in (Un-)Learning Place auf die Suche nach den unversehens aufklaffenden Lücken und sammelte Phrasen, die sie in den Diskussionen und Konversationen aufgeschnappt hatte:

I’m against discourse.
I feel like a tool for a project I don’t master.
How will you know it is dangerous if it’s dead and in a museum?
The cluelessness of many of these national institutions is a good moment to be in.
Don’t follow the rules, follow the energy.
It is a call to realise the urgency. But we didn’t get the call.
It has nothing to do with intention

Notizen aus der Diskussion zu Ground(-ing) Troubles, öffentliches Plenum zum Abschluss von (Un-)Learning Place, 2019, Foto: Tyna Fritschy

Die Lücke zu schließen, sobald sie auftritt – das sei die strukturierende Operation der Moderne, basierend auf abgeschlossenen Einheiten und einem Klassifikationssystem, so Karjevsky. Das Gaping hingegen lädt dazu ein, diesen beschränkten und beschränkenden Rahmen zu verlassen. Anstelle der Binarität soll die Polynominalität treten, anstelle der Eindeutigkeit die Komplexität, anstelle der Entitäten Spektren. Karjevskys Vorschlag ist dann simpel: „Don’t fill the gap!“ Dies könnte heißen: darauf zu verzichten, die bessere Interpretation und treffenderen Erklärungsmuster zu liefern, die Verkürzung auf den Begriff zu zelebrieren und stattdessen die Kritik viral werden zu lassen.

«It has nothing to do with intention»: Karjevsky hält es für unbestritten, dass der (Un-)Learning Place aus besten Intentionen hervorgegangen ist. «Doch ich fühle, dass diese Intentionen auf dem Weg verloren gegangen sind – aus 1000 Gründen, die wir niemals imstande sind aufzuzählen. Wir können dies nicht einfangen, weil die Dynamiken so komplex sind. Entweder lernen wir, uns mit der Komplexität in einer produktiven Art zu arrangieren […] oder die Komplexität nimmt überhand und wir verstricken uns in unseren Beschwerden.» Ich möchte Karajevskys Geste aufnehmen und darauf verzichten, mit einer abschließenden kritischen Einschätzung des (Un-)Learning Place die Lücke zu füllen. Imaginieren wir uns Gaping in der Gestalt einer Figur, so wäre es die Figur der queeren Weberin, die sich zu den sich zu wichtig gebärdenden Dingen mit einem Lächeln auf ironischer Distanz hält und in stiller Hingabe an den Stricken der Gegenwart die Alphabete der Zukunft webt.



Zuerst veröffentlicht auf brand-new-life.org